Leseprobe Madalena

copyright by Susanne Pilastro
Prolog

Málaga, 29. Januar 1869

Kühle Winterluft verwirbelte raschelnd die Blätter der Orangenbäume, die vereinzelt auf dem Friedhof standen. Die wenigen Zugvögel, die hier während der Reise Richtung Süden ihr Winterquartier aufgeschlagen hatten, um den eisigen Temperaturen jenseits der Pyrenäen und Alpen zu entfliehen, kamen mit ihrem lieblichen Zwitschern kaum an gegen das Krächzen der dunklen, großen Vögel, die man seit je her mit Orten wie diesen verbindet und die sich zudem von ihrer Himmelsherrschaft der Wintermonate nicht ohne weiteres vertreiben ließen – schon gar nicht durch heitere Gesänge entfernter Verwandter. Wie Wächter starrten sie von ihrem Hochsitz herab auf das kleine Meer von schwarzen Schirmen. Obwohl die Mittagssonne beinahe ihren Zenit erreicht hatte, fröstelte es die Frauen unter ihren trostlosen Requisiten dieses traurigen Anlasses und beinahe jede drückte sich an ihren Ehemann.
Hunderte von Menschen standen um das frisch ausgehobene Doppelgrab und wagten den einen oder anderen versteckten Blick hinüber zu Señorita Madalena. Es gab mit Sicherheit niemanden, der mehr trauerte als die junge Frau, die sich jetzt ihrem Schicksal würde fügen müssen; nicht Wenige hatten Mitleid mit ihr, denn Madalena Ramirez Lamberti hatte nicht nur auf einen Schlag ihre liebsten Menschen verloren, sondern zugleich ihre Freiheit…


Kapitel 1 - Das Geschenk

Málaga, 1. Mai 1859

Heute habe ich Geburtstag.
Das war mein erster Gedanke, als ich die Augen aufschlug, noch verschlafen, aber bereits wach genug, um nicht zurückzukehren ins Land der Träume. Dabei war es dort so schön gewesen: Vater hatte mir das Schachspiel seines Vaters geschenkt – so wie es an einem sechzehnten Geburtstag im Hause der Ramirez seit Generationen üblich war.

Der Überlieferung nach war es mein fünffacher Urgroßvater Said al Bakr , der diese Tradition begonnen hatte, als er seinem Sohn Karim vor über zweihundert Jahren einen Satz Schachfiguren schenkte; Hintergrund war wohl der Wunsch, das arabische Erbe fernab der Heimat aufrecht zu erhalten. Und Karim, der bereits vor der Geburt seines letzten Kindes wusste, dass ihm nicht mehr viel Lebenszeit übrig bleiben würde, hatte den Wunsch gehabt, jedem seiner Kinder etwas zu hinterlassen; er starb, als er die letzte Figur – den schwarzen König – für seinen noch ungeborenen Sohn angefertigt hatte. Allerdings war es kein Junge, der das Licht der Welt erblickte; und weil die Hinterbliebenen die aufwendigen Schnitzereien nicht hatten verfallen lassen wollen, war Ada das erste Mädchen in der Linie der al Bakr gewesen, das die Regeln des dazugehörigen Spieles kennen lernte. Mein Vater erzählte mir gerne die alten Familiengeschichten und besonders liebte er die Stelle, an der Adas Brüder es wohl bedauerten, ihrer Schwester das Schachspielen beigebracht zu haben; sie war schon bald berühmt-berüchtigt für ihr außerordentliches Geschick und entging wohl so mancher Ehe, indem sie den vermeintlichen Zukünftigen herausforderte und nur gewillt war, ihn zu heiraten, wenn er sie schachmatt setzen konnte. So kam es, dass Ada erst mit fünfundzwanzig Jahren den Mann traf, dem sie das Ja-Wort gab; es hält sich hartnäckig das Gerücht, sie habe ihn gewinnen lassen, weil er so schön war. Die Familie akzeptierte den Christen aus Andalusien wohl nur, weil Ada sonst womöglich niemals geheiratet hätte. Die Geburt der kleinen Aribah – sie sollte das einzige lebende Kind bleiben – ließ wieder Ruhe einkehren. Aribah gab das Schachspiel an ihren Sohn Palban den Älteren weiter, der vererbte es an Juan, meinen Großvater; und von ihm hatte mein Vater – Palban der Jüngere – es vor fünfunddreißig Jahren erhalten. Ich wäre die sechste Generation, die in den Besitz dieses traditionsreichen Schachspieles käme. Aber ich würde es nicht erhalten…

Ein wenig enttäuscht schloss ich wieder meine Augen und stellte mir die schönen Figuren vor: Karim hatte sie aus Olivenholz geschnitzt und kunstvoll poliert. Die eigentlichen weißen Figuren waren von einem goldenen hellbraun und, wie ihre schwarzgebeizten Gegenstücke, eine wahre Meisterleistung: Man konnte bei den Springern Nüstern erkennen; die Türme sahen aus wie richtiges Mauerwerk; und sowohl Dame als auch König hatten feine Gesichtszüge, die ihnen den adeligen Hauch verliehen, der ihrer Rolle gebührte. Es war ein Genuss, sie über das große Schachbrett ziehen zu lassen. Doch ich hatte nicht oft Gelegenheit gehabt, mit diesem Satz zu spielen, denn es war mein Bruder, der ihn an seinem sechzehnten Geburtstag geerbt hatte. Antonio war vier Jahre älter als ich und hatte nur aus diesem Grund das Privileg, Karims Schachspiel zu besitzen. Dabei spielte ich viel besser als er (auch wenn er das nicht wahrhaben wollte). Unterstützung holte er sich in dieser Auffassung von unserer Mutter – die einzige unter uns, die überhaupt kein Schach spielte. Sie stammte aus Venezien, wo man als Frau einen Haushalt zu organisieren hatte und nicht Figuren auf Brettern umher schob, wie sie stets zu sagen pflegte; wobei ich mir gut vorstellen konnte, dass diese Rollenzuweisung wohl auch außerhalb Veneziens galt, wenn ich den Erzählungen von Klassenkameradinnen Glauben schenken durfte…
Wütend warf ich mich auf die Seite und stopfte trotzig die Decke unter mein Kinn. Heute war mein sechzehnter Geburtstag und ich konnte mir kein Geschenk vorstellen, das mir mehr Freude bereiten könnte, als Karims Schachsatz. Dieser blöde Antonio… Doch ich ermahnte mich zur Vernunft; mein Bruder konnte schließlich nichts dafür, dass er vor mir das Licht der Welt erblickt hatte. Und Vater hatte mir einen wunderschönen Geburtstag prophezeit…

Für den heutigen Tag hatte ich mir eine Mandeltorte gewünscht und nur die Aussicht auf meinen Lieblingskuchen ließ mich dann doch aufstehen. Flink schälte ich mich aus meiner Decke, sprang barfüßig zum Fenster und zog die schweren, rostroten Samtvorhänge zur Seite. Die Sonne stand bereits über dem Dach des gegenüberliegenden Hauses und blendete mich. Als ich mir die Augen mit der Hand beschattete, entdeckte ich Rosalinda von gegenüber; sie winkte mir zu. Erfreut öffnete ich das Fenster und meine Freundin tat es mir gleich.
„Alles Gute zum Geburtstag!“, rief sie herüber.
Unsere Straße – die Calle del Conde de Cienfuegos, kurz Calle del Conde – traf direkt auf die Calle de la Victoria, die parallel zu dem Berg verlief, auf dem eines der Wahrzeichen Málagas, das Castillo de Gibralfaro stand; sie war viel befahren; das Geklapper einer der zahlreichen Kutschen, die an unserem Haus vorbei fuhren, wurde durch die enge Straßenführung noch verstärkt.
„Vielen Dank“, schrie ich zurück. „Stehst du schon lange da?“
„Nein“, lachte Rosalinda und wartete mit der restlichen Antwort, bis die Droschke unser Haus passiert hatte. „Es ist reiner Zufall. Hast du später ein wenig Zeit für mich? Ich möchte dir gerne von Mutters neuestem Kandidaten erzählen.“
Meine Freundin und ihre Mutter hatten sich vor einiger Zeit auf die Suche nach einem zukünftigen Ehemann für Rosalinda begeben. Ich, deren Leidenschaft dem Schach galt, war sehr froh, dass Vater die Oberhand in meiner Erziehung hatte.
„Ich kann nicht“, schüttelte ich den Kopf. „Für mich ist heute eine große Überraschung geplant.“
„Am Ende ist es ein hübscher, junger Mann“, kicherte Rosalinda.
„Gott bewahre. Aber ich berichte dir, sobald ich kann.“
Meine Freundin wandte das Gesicht ab, als wäre sie gerufen worden. „Ich muss gehen“, verabschiedete sie sich auch schon, schloss das Fenster und winkte noch einmal, bevor sie in der Dunkelheit ihres Zimmers verschwand.
Mein Fenster ließ ich geöffnet, damit die verbrauchte Luft der Nacht entweichen konnte. Der Wind brachte eine salzige Brise des nahen Meeres und ich atmete tief ein. Ich fühlte mich zu so früher Morgenstunde noch angenehm frisch und zog mich im Licht der Sonne an. Sie brach sich in den abertausenden Staubpartikeln, die durch meine flinken Bewegungen aufgewirbelt worden waren, und fühlte sich an wie eine warme, liebevolle Berührung auf der nackten Haut, die ich schließlich mit meinem Lieblingskleid aus kobaltblauer Seide bedeckte.
Nachdem ich vollständig angekleidet war, musterte ich mich eine Weile im Spiegel meines Morgentisches aus poliertem Olivenholz. Es gab Länder, in denen man in meinem Alter als erwachsen galt und sogar schon verheiratet war. Mir aber blickte noch immer das typische Antlitz eines Mädchens entgegen: rundliches Gesicht, kleine Nase, unschuldig dreinblickende Augen, die noch nicht viel gesehen hatten vom Leben – und all dies eingerahmt von kaum zu bändigenden braunen Kräusellocken. Ich mochte mein Aussehen nicht besonders; alles an mir war irgendwie pummelig. Und mit einem Busen, wie ihn andere in meinem Alter bereits besaßen, konnte ich auch nicht aufwarten; er wollte und wollte nicht wachsen. Nur die Farbe meiner Augen gefiel mir – sie waren von einem intensiven Blau, das ich noch bei keinem meiner Verwandten gesehen hatte. Die arabischen Wurzeln meines Vaters waren bei ihm kaum mehr zu sehen und ich selbst kam ohnehin mehr nach meiner Mutter. Dennoch gab es niemanden in meiner Familie mit solch strahlenden Augen, wie ich sie hatte.

Es klopfte an der Tür und jemand öffnete sie einen Spalt.
„Bist du schon wach, mein Täubchen?“ Es war Vater und er war offenbar unschlüssig, ob er eintreten sollte.
„Papà. Natürlich! Kommen Sie herein.“
Vater sah – so war ich es gewohnt – wie aus dem Ei gepellt aus; manchmal fragte ich mich, ob er stehend schlief oder am Ende gar nicht. Sein dunkles Haar lag geordnet über den bereits licht werdenden Schläfen, sein perfekt getrimmter Backenbart und sein gezwirbelter Schnurrbart hätte zweifelsohne als Vorlage für angehende Barbiere dienen können; sein Anzug wies nur dort Falten auf, wo es gewollt war und gab äußerst selten Anlass zur Beanstandung; triumphierend entdeckte ich gerade heute ein Haar, das auf seiner Schulter lag und das wohl von Mutter stammte, denn es war – wie das meine – stark gekräuselt. Vater folgte meinem Blick, entdeckte den Gegenstand meiner Aufmerksamkeit, zupfte ihn sich lachend vom Stoff und betrachtete dann mich.
„Du bist bereits angezogen“, bemerkte er. „Das trifft sich gut. Dann kannst du gleich mitkommen.“ Er griff nach meiner Hand und wollte mich – noch bevor er mich zum Gruß geküsst oder mir Glückwünsche überbracht hatte – hinter sich herziehen.
„Papà – wollen Sie mir nicht zuerst zum Geburtstag gratulieren?“ Ich wunderte mich ein wenig über die ausbleibende Würdigung meines Ehrentages.
Vater sah mich verblüfft an und fiel dann in schallendes Gelächter ein. „Alles Liebe zu deinem Geburtstag“, sagte er, nahm mein Gesicht in seine großen Hände und küsste mich auf die Stirn. „Verzeih mir meine Nachlässigkeit, aber ich war so aufgeregt wegen der Überraschung, die auf dich wartet.“
Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass er damit nicht meine Neugierde geweckt hatte. Was sollte das für ein Geschenk sein, das Karims Schachsatz überbieten konnte?
(...)

- in: 1614 mal gelesen
Stormy (Gast) - 10. Jun, 16:19

Wie schön...

... genau hierzu hatte ich mir insgeheim eine eigene Geschichte gewünscht, nach "Der Kakao..."! Ich freue mich schon auf deine nächsten Werke! :o)

Liebe Grüße
Stormy

Susanne Pilastro - 18. Sep, 20:34

Aktualisierung der Leseprobe

Nachdem ich einen Logikfehler entdeckt hatte, musste der Prolog korrigiert werden. Aktuell ist hier die bereinigte Fassung zu lesen.


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