"Was vom Alltag übrig blieb"
Während der Klavierstunde meiner Tochter sitze ich immer im Wartezimmer und ziehe mir jedes Mal ein zerfleddertes Exemplar aus dem Berg von Zeitschriften. Bis dato hatte ich mir die aktuelle Mode von 2003 zu Gemüte geführt oder mich in die brandneuen Urlaubsziele von 2004 eingelesen - man schwelgt ja gerne in Vergangenem.
Heute aber erwischte ich ein Juwel, das mir bis dato noch nie aufgefallen war: Die Geo 01 vom Januar 2005. Ich liebe diese Zeitschrift, weil sie auch nach Jahren noch - wenn es nicht gerade um das Programm von arte geht - aktuell und interessant ist.
Dieses Mal fesselte mich ein Bericht so sehr, dass ich gerne darüber berichten möchte: "Tagebücher - Was vom Alltag übrig blieb" ab Seite 109. In dem Artikel (Text von Alex Rühle, Fotos von Thomas Ernsting) geht es um das Deutsche Tagebucharchiv im badischen Emmendingen, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, alte Tagebücher zu archivieren.
Tagebuchschreiber heben auf im zweifachen Sinne: Sie bücken sich nach Kleinigkeiten, die auf der Straße liegen und über die die große Geschichtsschreibung rumpelnd hinwegfährt. Sie schätzen die scheinbar so flüchtigen Überbleibsel ihrer Tage - ... abgestempelte Fahrkarten, bestickte Taschentücher, kleine Bemerkungen, Beobachtungen und liebe Grüße, das duftende Blatt einer Magnolie im Hinterhof. Und sie heben all das auf für spätere Zeiten. Als Erinnerungen an ein vergangenes Menschenleben. (S. 112)
Da wären z. B. die Aufzeichnungen der Elvira Schwarz, die 1946 ihrem Tagebuch ihren ersten, nie abgeschickten Liebesbrief anvertraute: "Lieber Hugo, die ganze Woche versuchte ich, Dir einenBrief in den Schulranzen zu stecken. Doch die Getrud, die neben Dir sitzt, hat immer aufgepasst, blöde Kuh. Ich glaube, sie ist auch verliebt in Dich. (...) Hast Du schon einmal geküsst? Ich noch nicht. Sollen wir es mal ausprobieren? Ich verspreche Dir auch, dass ich nicht lache. Wann küsst Du mich? (...) " 1984 - fast 40 Jahre später - vermerkt Elvira: "Die vier Kinder sind alles ausgezogen. Dirk und ich sind alleine mit dem Schrott, der übrig geblieben ist von unserer Familie." Und vier Jahre später: "Die Scheidung ist rechtskräftig. 32 Jahre Ehe, weggeblasen wie ein Hauch."
"Wie ein Hauch", schreibt Alex Rühle. "Der feine Staub aus Alltag und Gedankenmurmeln, aus Arbeit, Essen, Liebe, Schweigen - all das rieselt stetig durch das Leben eines Menschen hindurch, verschwindet langsam in Vergessen. Tagebuchschreiber halten diesem Geriesel gedulgig einen Sieb hin. So wachsen die dünnen Seiten ihrer Alltagsmitschrift mit den Jahren zu kompakten Geschichten an."
Und wenn es kein Papier gibt? Clelia Marchi, einer italienischen Landarbeiterin, gingen irgendwann die Blätter aus, jeder Fetzen des Haushaltes war bereits beschriftet worden, aber Clelia hatte noch lange nicht alles erzählt; also spannte sie eines Nachts ein Laken fest über das Bett und schrieb in einem Zeitraum von zwei Jahren, auf den Knien rutschend, mit einem Filzsstift ihre Lebensgeschichte auf - Zeile für Zeile mehr als zwei Meter lang. Und doch viel zu kurz: "Ein Leinentuch so groß und breit wie das Meer bräuchte man, um all den Kummer zu erzählen."
Das Deutsche Tagebucharchiv bewahrt die Erinnerungen nach basisdemokratischen Vorgaben auf: Jedes Werk wird hier aufgenommen, vorausgesetzt, sein Verfasser gehört bis dahin der schweigenden Mehrheit an. Bereits veröffentlichte autobiografische Texte sowie Aufzeichnungen von prominenten Autoren werden nicht gesammelt.
In Italien sind mehrere der gesammelten Tagebücher bereits von großen Verlagen veröffentlicht worden, auch Clelia Marchis Erinnerungen.
Der Artikel endet mit den Erinnerungen von Ottilie Kern, die am 15. August 1842, kurz vor ihrem Abtransport nach Theresienstadt, schrieb: "Wie lernt man die Menschen kennen, in so schwerer Zeit, wie wenige gute findet man. Aber man findet sie doch, und wir fanden sie so unglaublich gut, dass ich es nie vergessen werden und meine Kinder es auch nie vergessen dürfen. Dies wollte ich noch sagen, denn dies Buch sollen meine Kinder einmal lesen."
Ich ziehe meinen Hut vor den Menschen, die derlei schwere Zeiten durchleben mussten; bedauerlicherweise gibt es von den Erinnerungen meiner Großeltern keine Aufzeichnungen. Das ist vielleicht mit ein Grund, warum ich seit meinem sechsten Lebensjahr Tagebuch führe und bald das fünfzehnte beschließe - wenngleich ich den Inhalt als weniger lesenswert erachte, als das, was meine Großeltern zu erzählen gehabt hätten.
Aber vielleicht ermöglicht es meinen Nachkommen, manches besser zu verstehen oder in einem neuen Licht zu betrachten. Wünschenswert ist es, dass man zu Lebzeiten miteinander spricht - doch wenn das nicht möglich ist, kann ein Tagebuch ein (wenn auch einseitiges) Sprachrohr sein.
- in:
Heute aber erwischte ich ein Juwel, das mir bis dato noch nie aufgefallen war: Die Geo 01 vom Januar 2005. Ich liebe diese Zeitschrift, weil sie auch nach Jahren noch - wenn es nicht gerade um das Programm von arte geht - aktuell und interessant ist.
Dieses Mal fesselte mich ein Bericht so sehr, dass ich gerne darüber berichten möchte: "Tagebücher - Was vom Alltag übrig blieb" ab Seite 109. In dem Artikel (Text von Alex Rühle, Fotos von Thomas Ernsting) geht es um das Deutsche Tagebucharchiv im badischen Emmendingen, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, alte Tagebücher zu archivieren.
Tagebuchschreiber heben auf im zweifachen Sinne: Sie bücken sich nach Kleinigkeiten, die auf der Straße liegen und über die die große Geschichtsschreibung rumpelnd hinwegfährt. Sie schätzen die scheinbar so flüchtigen Überbleibsel ihrer Tage - ... abgestempelte Fahrkarten, bestickte Taschentücher, kleine Bemerkungen, Beobachtungen und liebe Grüße, das duftende Blatt einer Magnolie im Hinterhof. Und sie heben all das auf für spätere Zeiten. Als Erinnerungen an ein vergangenes Menschenleben. (S. 112)
Da wären z. B. die Aufzeichnungen der Elvira Schwarz, die 1946 ihrem Tagebuch ihren ersten, nie abgeschickten Liebesbrief anvertraute: "Lieber Hugo, die ganze Woche versuchte ich, Dir einenBrief in den Schulranzen zu stecken. Doch die Getrud, die neben Dir sitzt, hat immer aufgepasst, blöde Kuh. Ich glaube, sie ist auch verliebt in Dich. (...) Hast Du schon einmal geküsst? Ich noch nicht. Sollen wir es mal ausprobieren? Ich verspreche Dir auch, dass ich nicht lache. Wann küsst Du mich? (...) " 1984 - fast 40 Jahre später - vermerkt Elvira: "Die vier Kinder sind alles ausgezogen. Dirk und ich sind alleine mit dem Schrott, der übrig geblieben ist von unserer Familie." Und vier Jahre später: "Die Scheidung ist rechtskräftig. 32 Jahre Ehe, weggeblasen wie ein Hauch."
"Wie ein Hauch", schreibt Alex Rühle. "Der feine Staub aus Alltag und Gedankenmurmeln, aus Arbeit, Essen, Liebe, Schweigen - all das rieselt stetig durch das Leben eines Menschen hindurch, verschwindet langsam in Vergessen. Tagebuchschreiber halten diesem Geriesel gedulgig einen Sieb hin. So wachsen die dünnen Seiten ihrer Alltagsmitschrift mit den Jahren zu kompakten Geschichten an."
Und wenn es kein Papier gibt? Clelia Marchi, einer italienischen Landarbeiterin, gingen irgendwann die Blätter aus, jeder Fetzen des Haushaltes war bereits beschriftet worden, aber Clelia hatte noch lange nicht alles erzählt; also spannte sie eines Nachts ein Laken fest über das Bett und schrieb in einem Zeitraum von zwei Jahren, auf den Knien rutschend, mit einem Filzsstift ihre Lebensgeschichte auf - Zeile für Zeile mehr als zwei Meter lang. Und doch viel zu kurz: "Ein Leinentuch so groß und breit wie das Meer bräuchte man, um all den Kummer zu erzählen."
Das Deutsche Tagebucharchiv bewahrt die Erinnerungen nach basisdemokratischen Vorgaben auf: Jedes Werk wird hier aufgenommen, vorausgesetzt, sein Verfasser gehört bis dahin der schweigenden Mehrheit an. Bereits veröffentlichte autobiografische Texte sowie Aufzeichnungen von prominenten Autoren werden nicht gesammelt.
In Italien sind mehrere der gesammelten Tagebücher bereits von großen Verlagen veröffentlicht worden, auch Clelia Marchis Erinnerungen.
Der Artikel endet mit den Erinnerungen von Ottilie Kern, die am 15. August 1842, kurz vor ihrem Abtransport nach Theresienstadt, schrieb: "Wie lernt man die Menschen kennen, in so schwerer Zeit, wie wenige gute findet man. Aber man findet sie doch, und wir fanden sie so unglaublich gut, dass ich es nie vergessen werden und meine Kinder es auch nie vergessen dürfen. Dies wollte ich noch sagen, denn dies Buch sollen meine Kinder einmal lesen."
Ich ziehe meinen Hut vor den Menschen, die derlei schwere Zeiten durchleben mussten; bedauerlicherweise gibt es von den Erinnerungen meiner Großeltern keine Aufzeichnungen. Das ist vielleicht mit ein Grund, warum ich seit meinem sechsten Lebensjahr Tagebuch führe und bald das fünfzehnte beschließe - wenngleich ich den Inhalt als weniger lesenswert erachte, als das, was meine Großeltern zu erzählen gehabt hätten.
Aber vielleicht ermöglicht es meinen Nachkommen, manches besser zu verstehen oder in einem neuen Licht zu betrachten. Wünschenswert ist es, dass man zu Lebzeiten miteinander spricht - doch wenn das nicht möglich ist, kann ein Tagebuch ein (wenn auch einseitiges) Sprachrohr sein.
Susanne Pilastro - 14. Feb, 16:24
1667 mal gelesen
Tagebücher sind Zeitzeugen
Auch als Bestandteil des Familienerbes sind Tagebücher von Bedeutung.
Als Zeitzeugen gewähren sie uns Einblick in die Gedanken, Gefühle und Sichtweisen von anderen Menschen, von denen sonst wahrscheinlich nie jemand erfahren hätte.
Wir können Tagebücher von Menschen lesen, die schon vor unserer Zeit gelebt haben.
Es wäre sicher ein Verlust, gäbe es so etwas wie Tagebücher nicht.
Ich selbst führe kein Tagebuch... zumindest nicht im üblichen Sinne. Wenn ich anderen hin und wieder schreibe, was ich denke und fühle und schildere, was sich so alles in meinem Leben ereignet, könnte man es allerdings zusammengenommen auch als eine Art "Tagebuch" bezeichnen. ;o)
Manchmal bedaure ich es schon, dass ich bestimmte Erlebnisse nicht schriftlich "konserviert" habe, aber ich bin wohl einfach zu faul und finde nicht die Zeit und Muße, mit einer gewissen Disziplin und Konsequenz Tagebuch zu führen. *g*
Jedoch kenne ich einige Leute mit Blogs. Die Gründe, warum Tagebücher geschrieben werden, sind vielfältig.
Jemand sagte mir mal, er könne so besser seine Gedanken sortieren oder auch beim späteren Durchlesen neue Blickwinkel entdecken. Dem einen oder anderen hilft es auch, wenn er sich Frust, Ärger, Ängste, Schmerz, Trauer u.ä. auf diese Art von der Seele schreibt.
Tagebücher sind normalerweise eine sehr persönliche, intime Angelegenheit. In erster Linie führt man sie wohl für sich selbst, aber manchmal möchte man sie auch mit anderen teilen...
Liebe Grüße
Stormy
@Stormy - Reflektieren
Das würde ich unterschreiben. Es hilft mir persönlich sehr, in der Vergangenheit zu wühlen und die Einträge mit Randbemerkungen zu kommentieren. Da merkt man, dass man sich weiterentwickelt - zumindest freue ich mich, wenn ich diesen Prozess an mir feststelle.
Ich denke, gerade für Kinder ist es irgendwann sehr interessant, was ihre Eltern früher gedacht haben - nicht immer wird es wohl schön sein, aber hilfreich, sie und ihre Handlungsweise zu verstehen. Daher finde ich es auch wichtig, Tagebücher ab und an mal zu überfliegen und neu zu kommentieren.